Vor Jahresfrist hatte ich in meinem Rück- und Ausblick vermutet, dass das Jahr 2020 keine grossen Fortschritte in der schweizerischen Energiepolitik bringen werde, weil Simonetta Sommaruga als Bundespräsidentin von vielen anderen Themen absorbiert würde. Tatsächlich hat sich auf der energiepolitischen Bühne 2020 wenig getan, zu sehr beschäftigte der verflixte Covid Virus unser politisches System, das nach 9 Monaten ziemlich an seine Grenzen gekommen ist. Koalitionsregierungen ohne echte Führung, starkes Lobbyieren von mächtigen Verbänden sowie ein Föderalismus, in welchem man ein kantonales Verbot mit einer Trämlifahrt von fünf Kilometern umgehen kann: Das sind nicht die Voraussetzungen, die bei der Bevölkerung Vertrauen schaffen. Und es ist deshalb immer öfters die Rede von einem generellen Staatsversagen, obwohl ja alle an ihrer Stelle immer das Richtige korrekt tun wollen….
Vor der CO2-Gesetzesabstimmung: Ausgang sehr ungewiss
Das einzige Gesetz mit Relevanz für Klima und Energie, das 2020 vom Parlament verabschiedet wurde, ist das CO2-Gesetz. Darüber werden wir wohl im Sommer 2021 abstimmen dürfen. Und dabei wird es nicht nur allein um die Vorlage gehen, gegen die von der Erdöllobby sowie der Klimajugend in einer unheiligen Allianz Opposition gemacht wird. Vielmehr haben einige Gruppen wegen Covid eine „Rechnung“ mit dem „Staat“ und der „Politik“ offen. Dazu gehören etwa Kulturschaffende, selbständig erwerbende Dienstleister, die Gastronomie oder die über 65-Jährigen, die von einem Tag zum andern von kerngesunden Golden-Agern zu Angehörigen einer Risikogruppe mutierten. Damit kann die CO2-Abstimmung leicht zu einer Vertrauensabstimmung für den Bundesrat, das politische System und die kaum erklärbaren Sonderzüglein einzelner kantonaler Regierungen werden. Denn wie mir einst schon mein Coiffeur empfahl, muss man es „denen“ wieder mal zeigen und an der Urne aus Protest grundsätzlich Nein stimmen. Bemerkenswert ist übrigens, dass bereits bei den eidgenössischen Abstimmungen vom September 2020 die Nachwahlbefragung im Tessin genau diesen Covid-Effekt ergeben hat.
Ein neues Super-Bundesgesetz in Vorbereitung
Aktuell werden im Bundesamt für Energie die Vorarbeiten geleistet, damit Mitte 2021 die Revisionen des Stromversorgungs- und Energiegesetzes im Sinn eines Mantelerlasses in ein neues Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien gegossen sind. Ein erster Schritt, Energie vermehrt als Gesamtsystem zu betrachten und mit einem ganzheitlichen Rechtsrahmen anzugehen. Dazu gehört künftig sicher auch die Weiterentwicklung der CO2-Gesetzgebung, um die Teilsysteme Strom/Wärme/Mobilität, die erneuerbaren Energien wie auch die Schnittstellen zwischen den einzelnen Teilsystemen zielführend zu regulieren.
Hat der Green Deal der EU Auswirkungen auf die Schweiz?
In der EU gibt man sich nach 25 Jahren intensiver Liberalisierung und Reregulierung der Energiemärkte nicht mehr der Illusion hin, dass man mit einer weiteren Runde von Gesetzen die einzelnen Teilmärkte wie Strom, Gas und Wärme effizienter, wettbewerbsaffiner und zukunftsgerichteter ausgestalten könnte. Die entsprechenden Vorarbeiten wurden abgeblasen und durch einen umfassenden Green Deal zur Erreichung der ambitiösen Klimaziele abgelöst. Dabei geht es nicht mehr um möglichst präzise Detailvorschriften für die einzelnen Teilmärkte sondern um Rahmenbedingungen, Infrastrukturen sowie die Transition ganzer Sektoren in die neue Klima- sowie Energiewelt. Und die Zauberworte, die dabei während der vergangenen sechs Monate unter deutscher EU-Präsidentschaft verwendet wurden, heissen Wasserstoff und Offshore-Energieproduktion. Diese sollen die längerfristige Energieversorgungssicherheit in der EU ermöglichen. Die Ziele und Strategien sollen schon bald mit ersten Förderinitiativen anvisiert werden. Dies könnte auch die Diskussion zum oben erwähnten Schweizer Supergesetz beeinflussen.
Der WEKO-Entscheid zum Gasmarkt: Konsequenzen für das GasVG?
Die Vernehmlassung zum geplanten Gasversorgungsgesetz GasVG ging im Februar 2020 zu Ende. Die Vorlage scheint aber noch weit vom Parlament entfernt zu sein. Erstens will man vorerst die Supervorlage StromVG/EnG als Botschaft finalisieren und zweitens scheint Simonetta Sommaruga – wie man aus der Branche hört – nicht gerade Gas-affin zu sein, weil es ein fossiler Energieträger ist. Zudem hat die Wettbewerbskommission WEKO mit einem Entscheid diesen Sommer den Gas-Markt für alle Teilnehmer geöffnet, sodass Durchleitungen ab sofort möglich sein sollten. Nicht nur der Preisüberwacher stellt deshalb die Frage, ob es denn überhaupt noch ein neues separates GasVG braucht, wenn der Gaskonsum wegen der Klimaziele sowieso zurückgehen wird und sich die Marktteilnehmer lange vor Inkrafttreten des GasVG wohl über die Bedingungen auf den Märkten privat einig sein könnten.
Die Elektroauto-Welle im Anrollen…
Vor einem Jahr hatte ich geschrieben, dass die E-Autos auch in der Schweiz kurz vor dem breiten Rollout stehen. Inzwischen haben die meisten Autohersteller ihre Angebote neu aufgestellt und über 60% der Schweizerinnen und Schweizer wollen beim nächsten Fahrzeug-Kauf die Anschaffung eines E-Autos prüfen. Ein befreundeter E-Auto-Pionier berichtet mir, dass er für die Verkäufer einzelner Automarken inzwischen Schulungen durchführt, damit diese ihren Kunden kompetent ein E-Auto präsentieren können. Gleichzeitig sind die öffentlichen Schnelllader-Charging-Stationen immer stärker belegt, sodass auch ich auf der App nun plötzlich die nächste freie Station teils eher weit entfernt finde.
….und erstmals Wasserstoff bei den Trucks
Bemerkenswert ist, dass bei den Nutzfahrzeugen der Trend aktuell Richtung H2 zu gehen scheint. Noch steckt die Technologie in Kinderschuhen, noch ist die Produktion und Lagerung von Wasserstoff aufwendig, noch ist der Rollout der Tankstellen in der Startphase. Aber eine Kombination von bereits bestehenden günstigen Rahmenbedingungen, wie das Umgehen der Netznutzungstarife oder die Besteuerung der LKW, könnte dem Wasserstoff zumindest in der Schweiz vorläufig ohne grosse staatliche Förderaktivitäten eine Chance geben, wenn nun neben Hyundai auch die anderen grossen Truck-Hersteller auf diese Technologie setzen.
Nuklear auf dem Abstellgleis
Noch werden uns zwar immer wieder neue Konzepte für die nukleare Stromproduktion präsentiert, doch sind diese Ansätze gegenüber den Erneuerbaren kostenmässig nicht konkurrenzfähig. Wie stark sich Nuklear in der Schweiz auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit befindet, zeigt der bundesrätliche Entscheid zur Federführung im Verwaltungsrat der Internationalen Atomenergie Agentur IAEA in Wien. Hatte es das BFE während Jahrzehnten für richtig befunden, diesen Sitz hochrangig zu besetzen und damit eine fachlich kompetente Koordination der mit Nuklearfragen befassten Ämter sowie Institutionen sicherzustellen, so ist nun seit wenigen Wochen mit Botschafter Benno Laggner erstmals ein EDA-Diplomat mit der Federführung betraut. Weil Diplomaten ja ihre Station alle vier Jahre wechseln, kann da nicht mehr von Kontinuität, sondern nur von reiner Repräsentation die Rede sein. Dies bei einer früher wichtigen Organisation, bei der die Schweiz gar einmal den Generaldirektor stellen wollte.
Energieforschung und Innovationsförderung weiter mit voller Kraft
Erfreulich ist, dass die Förderung von zukunftsgerichteter Energieforschung und Innovation wie auch Startups weitergeht. Pünktlich auf das Ende der Laufzeit des Programms der Kompetenzzentren für Energieforschung SCCER wurde das Nachfolgeprogramm SWEET ausgerollt, welches nun konzentriert einzelne Forschungsschwerpunkte vorantreibt. Herangewachsen ist eine Community aus staatlichen und privaten Unterstützern – von Innosuisse über VC-Fonds,kantonalen Wirtschaftsförderer, Seco bis hin zur Swiss Entrepreneurs Foundation und dem Technologiefonds – die sich für Innovationen und pfiffige Jungunternehmen engagiert, um den Ideen auf dem Markt Chancen zu geben.
Energieperspektiven 2050+: Gestaltungsoptionen vorhanden
Seit den Siebzigerjahren wird die schweizerische Energiezukunft periodisch in Szenarien beschrieben. Die neuste Edition hat in Medien und Öffentlichkeit wenig Echo ausgelöst, obwohl einige Punkte bemerkenswert sind. Die seit Jahrzehnten involvierten Beratungsbüros Prognos, Infras und TEP zeigen auf, dass das klimapolitische Netto-Null-Ziel zwar erreichbar ist, aber wesentliche und rasche Fortschritte bei Energieeffizienz und Erneuerbaren verlangt. Und am Schluss wohl Carbon Capture and Sequestration (CCS) wie auch Negativ-Emissionstechniken (CO2-Entzug aus der Atmosphäre) mit Speicherung im In- und Ausland nötig sein werden. Zudem scheint eine Abregelung überschüssiger erneuerbarer Energien inzwischen akzeptiert, obwohl man noch vor kurzer Zeit diese Energie unbedingt nutzen wollte. Immerhin rechnen die Energieperspektiven 2050+, dass sich ab 2030 die Elektrolyse als neue wesentliche Technologie etabliert. Spannend auch die Aussagen zu den Importen, die um mehr als 80% zurückgehen und sich beinahe vollständig aus erneuerbaren Energien in Form von Biomasse sowie Power-to-X zusammensetzen werden.
Wichtige personelle Weichenstellungen im Jahre 2020
Der neue Axpo-CEO Christoph Brand hat vor einigen Monaten seine Arbeit aufgenommen. Man registriert bereits einen veränderten Spirit sowie neue zukunftsweisende Botschaften. Zudem hat Alpiq mit Antje Kanngiesser eine CEO gewählt, welche breite Branchenerfahrung hat, sich für Erneuerbare einsetzt und auch die Vorteile von Kooperationen sieht. Da könnte eine Eiszeit zu Ende gehen. Natürlich wird es nun keine Neuauflage von Swisselectric geben, aber bestimmte Fragen, welche die AAB (Alpiq/Axpo/BKW) gemeinsam betreffen, könnten in dieser neuen Konstellation zusammen angegangen werden.
In der Bundesverwaltung hat mit Kathrin Schneeberger, vorgängig im ASTRA engagiert, erstmals eine Frau die Direktion des Bundesamtes für Umwelt BAFU übernommen. Zusammen mit dem Schwesteramt BFE wird es ihr darum gehen müssen, verlässliche Grundlagen und kluge Gesetzesentwürfe zu präsentieren, mit denen Versorgungssicherheit und Klimaziele gleichzeitig erreicht werden können.
Ein doppelter Wechsel hat beim ENSI stattgefunden. Der auf Jahresbeginn neugewählte ENSI-Präsident Martin Zimmermann hat sein Mandat nach wenigen kritischen Medienfragen niedergelegt, um die Glaubwürdigkeit des ENSI zu schützen. Er wurde durch Rechtsprofessor Andreas Abegg ersetzt. Marc Kenzelmann hat Mitte des Jahres die Direktion des ENSI übernommen und wird dort zu effizienten sowie fundierten Entscheiden beitragen.
Was wird die neue Normalität sein?
Werden Politik und Wirtschaft, wenn dann möglichst viele geimpft sind, zur alten Normalität im Energiebereich zurückkehren und die vorherigen Ansätze weiterverfolgen? Ich gehe davon aus, dass Covid einiges in Bewegung gebracht hat und sich das Rad nicht mehr zurückdrehen lässt. Verschiedenste Erkenntnisse, neue Ansätze und Arbeitsformen wie Homeoffice, Videokonferenzen bis hin zum vermehrten Reden in Klartext werden bleiben. Die Hierarchien werden gegenüber Teamarbeit an Bedeutung verlieren und die Digitalisierung wird überall umgesetzt. Zudem sind im Energienetzwerk verschiedenste Plattformen am Start, die gebündelt die betrieblichen Prozesse und die überbetriebliche Kooperation erleichtern werden. Zu hoffen ist, dass der Staat und damit BFE/BAFU ihre Rolle in diesem stark veränderten Umfeld finden und mit klugen vorwärtsorientierten Regulierungen zu Versorgungssicherheit sowie Erreichen der Klimaziele beitragen werden. Zudem werden Bundesrat und Parlament sich stark engagieren müssen, um bei der Bevölkerung wieder Vertrauen in die Institutionen sowie die Vorlagen zu schaffen und damit die Basis für eine gedeihliche Weiterentwicklung der schweizerischen Politik zu legen.
Ich wünsche Ihnen ein gutes Neues Jahr: Bleiben Sie gesund, kritisch-konstruktiv und engagiert für eine nachhaltige und bunte Energiezukunft!
Erscheint am 30. Dezember als Blog im Energate Messenger Schweiz