Die Ölkrise der frühen 1970er Jahren brachte die einseitige Erdölabhängigkeit der Schweiz schmerzlich an den Tag. Als Alternative kam Erdgas ins Spiel. So sollte beispielsweise das bisherige aus Kohle hergestellte Stadtgas durch Erdgas ersetzt werden, das im Norden Europas aus dem Untergrund gewonnen und importiert werden konnte. Die Gesellschaft Swissgas sollte den Bau eines nationalen Gasnetzes vorantreiben und auch das benötigte Gas im Ausland gebündelt einkaufen. Der Bundesrat erteilte die Konzessionen für das neu zu errichtende Rohrleitungsnetz und legte darin auch fest, dass im Swissgas-Verwaltungsrat der Direktor des Bundesamtes für Energie (BFE) Einsitz nehmen sollte, um den Ausbau dieser neuen Infrastruktur eng zu begleiten und promoten.
Die Schweiz – ein attraktives Transitland für Verkehr, Strom und Gas
Bald meldete sich der italienische Energiekonzern ENI, der mit Blick auf die Versorgungssicherheit Italiens eine Pipeline durch die Schweiz bauen wollte. Der Bund sowie die Schweizer Gaswirtschaft erkannten die Möglichkeit, dass so – ähnlich wie hundert Jahre zuvor beim Bau des Gotthardtunnels – eine zum grössten Teil durch ausländische Geldgeber finanzierte Transversale durch die Schweiz errichtet werden könnte. Diese Pipeline sollte einerseits das Rückgrat der schweizerischen Gasversorgung bilden, anderseits die von Italien gewünschte Verbindung zu den nordeuropäischen Gasvorkommen garantieren als auch die Anbindung an die russischen Gasströme sicherstellen. Man einigte sich darauf, dass die Investitionen zu 90% von ENI übernommen, jedoch 51% der Aktien der neuen Transitgas AG von der Schweiz über Swissgas gehalten werden sollten. Italien erhielt 90% der Durchleitungsrechte, da die restlichen 10% zur Deckung des Inlandverbrauchs der Schweiz vollauf genügten. Die Schweiz hat von diesem Deal in den letzten Jahrzehnten bestens profitiert. Entstanden ist ein kostengünstiges Zuliefersystem für die Schweizer Gasverbraucher, bei dem ein schöner Teil der Kosten und Risiken vom Ausland mitgetragen wird. Im Zweifelsfall hat zudem gemäss internen Weisungen die Belieferung der schweizerischen Konsumenten Vorrang. Ausserdem bietet Transitgas über 50 Arbeitsplätze in der Schweiz und zahlt zusammen mit der Kapazitätsvermarktungsgesellschaft Fluxswiss nicht unerheblich Steuern.
Gasmarkt Schweiz seit 1963 geöffnet
Die europäischen Strom- und der Gasmärkte wurden seit den Neunzigerjahren mit drei Liberalisierungspaketen sowie jüngst mit dem Clean Energy Paket geöffnet. In der Schweiz fokussierte sich die Marktöffnung vorerst auf den Strommarkt. Der Gasmarkt flog lange Zeit unter dem Radar. Erst die Klagen von Grosskonsumenten in den Nullerjahren machten bewusst, dass mit einem einzigen Artikel (Art. 13) des Rohrleitungsgesetzes RLG der schweizerische Gasmarkt faktisch bereits seit 1963 geöffnet ist. Im RLG ist auch festgehalten, dass das BFE bei Konflikten entscheiden muss.
Diese Klagen führten schliesslich zu einer privatrechtlichen Marktöffnung für grosse Verbraucher, die in einer Verbändevereinbarung zwischen Gaswirtschaft und Grosskonsumentenverbänden festgeschrieben wurde. Doch weitere Klagen folgten, nun von kleineren Konsumenten, und es drohen Entscheide der Wettbewerbskommission. So wünscht sich die Gaswirtschaft nun plötzlich die möglichst baldige Inkraftsetzung eines Gasversorgungsgesetzes, um von der Wettbewerbsbehörde ja nicht zu saftigen Bussen verurteilt zu werden.
Kommt das GasVG zu spät?
Ende Oktober 2019 hat der Bundesrat den Entwurf eines Gasversorgungsgesetzes (GasVG) in die Vernehmlassung geschickt. Ein Entwurf mit über 40 Artikeln, der den Markt und den Monopolteil ziemlich umfassend regulieren will. Das GasVG könnte wohl etwa 2024 in Kraft treten und gegen Ende des Jahrzehnts lägen dann die definitiven Entscheide der letzten Instanz, des Bundesgerichts, zu den zu erwartenden Klagen vor. Spät oder gar zu spät, denn bis dahin sollten, gemäss den Forderungen der Klimajugend, die fossilen Energieträger und damit auch Gas bereits ziemlich vollständig aus dem Energiesystem verbannt sein.
Umfassende Gasmarktregulierung oder ganzheitliche Transition des Energiesystems
Während in der Schweiz die Öffnung des Gasmarktes erst jetzt gesetzesmässig angegangen wird, verabschieden sich die Regulatoren in der EU bereits wieder von diesem Ansatz. Sie wollen ab 2025 ein neues Modul installieren, welches stark auf die Transition der Energiesysteme ausgerichtet ist und erneuerbare Gase sowie die Dekarbonisierung fördert. Deshalb verlangen die Regulatoren nun nicht mehr weitere harte wettbewerbliche Regulierungen im Gasbereich sondern Platz für Versuche (Reallabore) und Pilotprojekte. Gas soll so als Teil der Lösung auf dem Weg in eine ganzheitliche erneuerbare Energiezukunft positioniert werden.
Schnittstellen definieren statt Märkte einzeln regulieren
Der Schweizer Gesetzgeber wird sich deshalb gut überlegen, ob aktuell nicht eine sehr schlanke, die Marktöffnung klar definierende Gesetzgebung (vielleicht gar als Ergänzung des Rohrleitungsgesetzes) genügen würde, um das über der Branche hängende Damoklesschwert der Wettbewerbskommission zu entschärfen. Anschliessend könnte eine Novelle des Energiegesetzes die Transition der Bereiche Strom, Gas, Wärme und Mobilität unter Berücksichtigung der Spielregeln für die Sektorkopplung ganzheitlich definieren. So könnte der Weg in eine erneuerbare Zukunft mit viel Spielraum für Experimente und Pilotprojekte mit einzelnen lokalen sowie regionalen Marktmodellen skizziert geöffnet werden.
Wir wissen alle, dass die grosse Herausforderung des Übergangs in die neue Energiewelt die Bewältigung des Spitzenbedarfs im Winter und damit die Energiespeicherung sein wird. Dazu muss die Umwandlung von Strom in erneuerbares Gas und Wasserstoff systemisch vorangetrieben werden. Entsprechende Innovationen brauchen eine adäquate Förderung. Statt der umfassenden Regulierung der einzelnen Märkte sollten vielmehr die Schnittstellen zwischen Strom, Gas, Wärme, etc. richtig definiert werden, um die Versorgungssicherheit zu garantieren und die Transition mit geringstmöglichen volkwirtschaftlichen Kosten zu erreichen.
Transite weiterhin als Trumpf für unser Land einsetzen
Ebenfalls zu überlegen ist, ob es für die Gastransite tatsächlich eine umfassende Regulierung braucht. Denn die Transite und damit die Transit-Durchleitungstarife der Schweiz befinden sich bereits in einem harten direkten Wettbewerb mit den übrigen Transitpipelines sowie den LNG-Terminals in Italien. Heute werden durch die marktnahe Vergabe der schweizerischen Transitkapazitäten Gewinnmöglichkeiten gezielt wahrgenommen, gleichzeitig aber auch die nicht unbedeutenden Risiken privat getragen. Das heutige System erlaubt die Versorgungssicherheit der Schweiz beinahe als Nebenprodukt eines austarierten internationalen Systems zu garantieren und die Schweizer Konsumenten damit nur minimal zu belasten. Je enger und einschränkender der schweizerische Regulierungsrahmen gesetzt wird, desto weniger attraktiv werden die Transite. Und desto mehr werden die einheimischen Konsumenten für die Garantie der Zuleitung von Gas Richtung Schweiz bezahlen müssen.
Erscheint am 28. November 2019 im Energate Messenger Schweiz